Felicity Lunn im Gespräch mit Andrea Heller, 2019

(deutsch)

Felicity Lunn — In dieser umfangreichen Einzelausstellung zeigen wir deine neuen Arbeiten in einer Gegenüberstellung mit einer Auswahl älterer Werke. Die Medien, in welchen du seit dem Studienabschluss 2003 vor
allem arbeitest, sind Malerei, Keramik, Glas und Gips. Jedenfalls bist du in der Schweizer Kunstszene vor allem für deine Tuschezeichnungen bekannt. Was sind hier die wichtigsten Eigenschaften von Tusche auf Papier?
Andrea Heller — Tusche oder auch Aquarell auf Papier ist eine sehr direkte Technik. Einmal aufgetragen, ist jeder Strich, jede Fläche gesetzt. Meist arbeite ich lasierend und male direkt Verläufe in Flächen, die hellste Farbe ist das Weiss des Papiers. Nur in ganz dunklen Flächen kann etwas verborgen werden.

— Wie beginnst du eine neue Zeichnung?
Meist erarbeite ich den Ablauf meines Vorgehens im Voraus, überlege mir, was ich für Voraussetzungen brauche für die Zeichnung. Dann hänge ich das Blatt entweder an die Wand oder ziehe es nass auf einem extra dafür gebauten Tisch auf. An der Wand entstehen Verläufe, auf dem Tisch Flächen mit Trocknungsringen. Ich habe Themen, aber kein fertiges Bild im Kopf. Die Papierarbeiten wachsen organisch oder architektonisch, aber ohne Plan, in kleinen Teilen, die sich dann zu etwas Grossem zusammenfügen.

— Sehr offensichtlich ist die Abwesenheit von Details in deinen Zeichnungen.
Genau, es gibt keine einzelnen Pinselstriche oder Punkte. Striche entstehen nur durch Überlagerungen von Flächen. Das Bild ist immer das direkte Resultat technischer Vorgänge.

— 2018 hast du angefangen, auch auf Stoff grossformatige Zeichnungen zu malen, die du zum ersten Mal in dieser Ausstellung zeigen wirst. Warum wolltest du mit diesem Material arbeiten?
Die Struktur, die Textur des Stoffes ist für mich sehr anziehend und die daraus resultierenden Zeichnungen sind objekthafter und körperlicher. Stoff ist auch ein Material, das uns im Alltag in unterschiedlicher Form oft umgibt und daher auch anders konnotiert ist als Papier. Sehr bald habe ich bemerkt, dass die Farben noch mehr Leuchtkraft haben auf diesem Untergrund.

— Bei den Stoffarbeiten ist deine Palette umfangreicher geworden, nicht wahr? Du scheinst eine grössere Auswahl an Farben – dunkle, starke wie auch hellere Farben – zu verwenden. Du probierst hier auch neue und komplexere abstrakte Formen aus. Kommt diese Entwicklung durch die anderen Möglichkeiten mit Stoff im Vergleich zu Papier? Haben sich deine Themen bei diesem neuen Material geändert?
Die Themen haben sich nicht unbedingt verändert, ich verfolge und behandle sie immer wieder anders und differenzierter. Farblich habe ich andere Möglichkeiten auf der rohen Baumwolle, die ich teilweise wie das
Papier bemale, teilweise fast eher einfärbe. Auch kann ich viel dichter schichten und übermalen oder mit Nass-in-Nass-Kombinationen spielen.

— Du hast mehrere Themen, die in deiner Arbeit immer wieder zurückkehren. Welche sind für dich die wichtigsten?
Etwas, was mich immer wieder beschäftigt, sind die Wahrnehmung eines Ortes und dessen Fragilität, auch Konstruktionen – physisch gebaute, aber auch gedankliche. Die Stoffarbeiten beispielsweise habe ich ursprünglich als Flaggen für unspezifische Orte gedacht, die nur in meinem Kopf existieren, Orte, an denen ich in Gedanken oder im Traum war. Dem Unvermögen, einen Traum nachzuerzählen, kommt das Nachzeichnen
eines solchen Ortes gleich. Jedoch transformiere ich hier den unspezifischen in einen existierenden, scheinbar gebauten Raum, was sich in den Titeln dieser Serie widerspiegelt. Insofern ist es auch ein Nachdenken über Illusion und Vergänglichkeit.

— Wie planst du, diese neuen Werke in der Ausstellung zu zeigen?
Ich zeige sie direkt an der Wand – wie Vorhänge oder Wandteppiche. In einem der Räume werden sie mit einer Installation aus Glas- und Keramikobjekten kombiniert. Beide Serien haben einen starken handwerklichen Charakter.
Das Handwerkliche hat einen zentralen Platz in meiner Arbeit, denn es leitet mich immer zu einem Medium. Meine Herangehensweise ist nicht akademisch, das heisst, ich beschäftige mich wenig mit theoretischen
Fragen zur Malerei. Ich finde das Medienspezifische einengend. Ich arbeite recht intuitiv; tatsächlich ist die Intuition für mich wie ein Werkzeug,
das ich bewusst verwende, um meine eigene Sprache zu verfeinern.

— Du hast von gebauten Räumen gesprochen. Wie geht es damit weiter in deiner Arbeit?
In deren Verhältnis zum Körper, aber auch deren Dekonstruktion und Bedrohung. Rauch und Wolken, die körperhaften Gebilde faszinieren mich in ihrer Immaterialität. Die Zusammensetzung eines Ganzen aus einer Unmenge an Kleinstpartikeln … Cluster … Unterschwellig spielt die Bedrohung der Existenz eine Rolle.

— Manchmal wirken deine Bilder, vor allem die kleinformatigen
Zeichnungen, gar nicht bedrohlich, sondern eher zuerst schön, sogar lieblich. Ist dies eine Strategie, um den Betrachter in den ersten Sekunden zu verführen?
In den meisten Werken gibt es nebst dieser ästhetischen Verführung ein Irritationsmoment, einen Bruch. Solche Brüche und Kontraste sind mir wichtig und ziehen sich durch alle Themen in meiner Arbeit. Sie machen eine mehrschichtige Lesbarkeit möglich.

— Welche Rolle spielt das Modell in deiner Praxis?
Der Modellcharakter meiner Arbeit ist sehr präsent und wichtig. Die Werke sind modellhaft zu verstehen, da sie nichts Reelles abbilden, sondern auf etwas verweisen, das ausserhalb liegt. Während meines Kunststudiums habe ich Kleidungsstücke und Schuhe als nicht funktionierende Attrappen hergestellt, die für mehrere Sachen stehen konnten. Die neuen Gipsobjekte aus der Serie Terrain vague haben eine vielschichtige Modellfunktion; sie erinnern sowohl an Anatomie-Modelle aus dem Schulunterricht, wo
man Bauchdecke, Gedärme, Geschlechtsorgane u. a. m. auseinandernehmen konnte, als auch an Landschaftsbilder aus der Luft, Modelle mikroskopischer Krankheitsbilder oder Sedimente. Die Glas- und Keramik-Objekte der Werkserie Magnitude zeigen modellhaft eine Vulkanlandschaft. Darauf verweist der Titel, denn Magnitude ist u. a. die
Masseinheit zur Messung der Stärke eines Vulkanausbruches. Die übereinandergestülpten, farbigen Glasglocken und die kuppelartigen Keramiken könnten aber auch weibliche Brüste sein. Ich interessiere mich
für die archaische Form von Brust, Vulkan, Pyramide, Behausung, die in meinen Zeichnungen immer wieder dargestellt und untersucht wird.

— Wie gehst du mit dem Raum in deiner Ausstellung um?
Ich wollte unbedingt die Salle Poma – den grossen Kubus im Kunsthaus mit einer Fläche von 365 m2 und einer Höhe von 5,80 m – bespielen, um das enorme Volumen auszuprobieren. Seine schlichte Masse umgibt einen, sodass man die eigene Fragilität vis-à-vis der Schwere vom Raum spürt. Ich wollte etwas dieser Masse gegenüberstellen, das selbst imposant und
brutal, aber auch zerbrechlich wirkt.

— Was bedeutet der Titel?
L’Endroit de l’envers kann nicht direkt übersetzt werden, heisst aber etwa «Der Ort des Verkehrtseins». Es ist ein umgekehrter Ort, wo es kein Hinten und kein Vorn gibt und sich der Standpunkt immer wieder verändert. Beim Eintreten in den Saal wird man mit einer schrägen verschlossenen Wand konfrontiert; erst beim Herumgehen öffnet sich die Struktur. Die Besucher können auch unten- und zwischendurch gehen. L’Endroit de l’envers steht in einer engen Beziehung zu den Gipsarbeiten, die auch für diese
Ausstellung entstanden sind. Gewisse sind modellhafter
als andere, da sie Architekturelemente, wie Observatorien, Treppen oder Mauern aufweisen.
— Oder sind Echos der abstrakten Skulptur der 1950er
und -60er Jahre …
Das stimmt. Der Mensch ist in dieser Arbeit abwesend und doch allgegenwärtig. Der Betrachter, die Betrachterin kann in vielen der
Gipsobjekte imaginär herumgehen, andere – beispielsweise die Muschelformen – lassen einen aussen vor. Der Gips ist teilweise von Tusche eingefärbt und die Objekte sind unterschiedlich glatt. In dieser pseudo-wissenschaftlichen Auslegeordnung in der langen Vitrine werden die Objekte fast zu einer Art Aneinanderreihung tagebuchartiger Fundstücke einer Reise.

Felicity Lunn ist Direktorin und Kuratorin am Kunsthaus Centre d’art Pasquart in Biel/Bienne.